Deprivationshund

Das Leben mit Deprivationshund

Nach der Geburt eines Welpen beginnt auch die Entwicklung des Gehirns in Bezug auf Sinneswahrnehmungen. Die ersten Lebensmonate sind also besonders wichtig und vor allem auch nachhaltig für eine gesunde Entwicklung des Hundes. In dieser Zeit vernetzen sich die Nervenzellen im Hirn des Hundes, damit er für sein zukünftiges Leben gewappnet ist.

Dieses „Nervennetz“ kann man sinngemäß auch mit einem Autobahnnetz vergleichen. Auch das muss ausgebaut werden, damit der Verkehr fließen kann. Wird also das Nervennetz nicht stimuliert, wird es entsprechend auch nicht ausgebaut. Der Welpe muss also neue Reize wahrnehmen, Erfahrungen sammeln, sozialisiert werden und Beziehungen aufbauen.

Was steckt hinter dem Deprivationssyndrom?

In der Psychologie bedeutet „Deprivation“ ein Mangel, Verlust oder Entzug von etwas Wichtigem oder Erwünschtem. In Bezug auf Hunde geht es hier in der Regel um die vorgenannten wichtigen Stimuli, welche dem Welpen verwehrt blieben. Es entstehen dadurch Entwicklungs- und Anpassungsstörungen – die sogenannten Deprivationsschäden oder das Deprivationssyndrom.

Kurz gesagt haben Deprivationshunde in der wichtigen Startphase ihres Lebens so einiges verpasst. Diese Hunde hatten einen holprigen Start in die bunte Welt. Folgende Beispielfaktoren können Deprivationsschäden nach sich ziehen:

  • Isolierte Haltung
  • Das Leben auf der Straße mit hauptsächlich negativen Erfahrungen mit Menschen
  • Unbehandelte gesundheitliche Probleme
  • Schlechter Umgang mit den Hunden (Gewalt, keine Fürsorge)
  • Die Mutterhündin war gestresst, krank oder schlecht sozialisiert
  • Mangelernährung

Besonders gefährdet sind beispielsweise die Welpen von Vermehrern, aus Tötungsstationen, Laborhunde oder die sogenannten „Kofferraumwelpen“.

Dieses „Päckchen“ begleitet einen Deprivationshund in der Regel ein Leben lang – den einen Hund mehr, den anderen weniger. Sehr selbstständige Hunderassen leiden häufig weniger unter den fehlenden Erfahrungen mit Menschen. Zudem kommt es auf den individuellen Charakter und die Wesensfestigkeit an.

Außerdem spielt die Dauer des Reizentzugs sowie das Alter des Hundes während der Deprivation eine große Rolle. Je früher der Hund aus dieser „giftigen“ Umgebung heraus in die wirkliche Welt kommt, desto besser sind die Chancen auf eine positivere Weiterentwicklung.

Wie äußern sich Deprivationsschäden?

Viele Hunde mit Deprivationssyndrom haben in ihrem künftigen Leben einige Schwierigkeiten im Alltag. Diese Hunde haben beispielsweise Probleme zu entspannen oder Konzentrations- und Kommunikationsschwierigkeiten. Neue Dinge bereiten ihnen zusehends Stress und sie reagieren überempfindlich auf bestimmte Reize oder die Nähe zu Menschen und Artgenossen. Die Hunde wirken dabei überaus ängstlich und vorsichtig oder sie reagieren voller Hektik, Panik und wirken hyperaktiv.

Auch Frust können Deprivationshunde oft nur schwer aushalten. Doch auch Verhaltensweisen wie Apathie werden häufig bei Deprivationshunden beobachtet. Diese Hunde wirken also in sich gekehrt, zeigen kaum Interesse oder machen gar einen traurigen Eindruck.

Viele Hunde mit Deprivationssyndrom zeigen in ihrem künftigen Leben Verhaltensauffälligkeiten. Stereotypien wie monotones Dauerbellen, das Schwanzjagen oder das Jagen unsichtbarer Fliegen. Das dauerhafte Lecken und Knabbern an Pfoten oder anderen Körperregionen können ebenfalls vorkommen.

ständiges Schwanzjagen ist eine Auffälligkeit

Übersteigertes Jagd- oder Hüteverhalten, übermäßiges Fressen, oder auch unangemessenes Aggressionsverhalten gehören ebenso zu den typischen Folgeschäden der Deprivation. Bei Hunden mit Deprivationsschäden sind zusammenfassend viele Verhaltensweisen also extremer als bei Hunden mit einer gesunden Entwicklung.

Was braucht ein Deprivationshund?

Das wohl Allerwichtigste für einen Hund, dem so vieles von der Welt vorenthalten wurde, ist Vertrauen und Struktur. Natürlich sollte dein Hund auch Neues kennenlernen und die Welt entdecken. Doch alles zu seiner Zeit. Das Überschütten mit neuen Reizen kann deinen Deprivationshund schnell aus der Bahn werfen.

Würden wir Menschen monate- oder jahrelang völlig reizarm und unter hauptsächlich negativen Umständen leben oder aufwachsen, wären wir in einem bunten Einkaufszentrum mit lauter neuen Geräuschen, Menschen und Gerüchen wohl auch völlig überfordert. Das sollte man sich als Halter eines Hundes mit diesen Defiziten immer vor Augen führen.

Feste, vorhersehbare Rituale geben deinem Hund die nötige Sicherheit. Auf Rituale kann er sich verlassen, sie sind fest im Alltag integriert. Wenn dein Hund diese festen Konstanten im Alltag kennengelernt hat, muss er sich hier nicht mehr immer wieder neu darauf einstellen. Ein Stressfaktor weniger. Denke da gerne an dein Ritual am Morgen wie zum Beispiel das Zähneputzen. Ein Faktor im Alltag, welcher automatisch abläuft und mit dem du dich gar nicht mehr bewusst befassen musst. Ähnlich wirken Rituale auch auf deinen Hund.

Ein Rückzugsort bietet deinem Hund Ruhe. Hierhin kann er sich zurückziehen, wenn es ihm zu viel wird. Hier fühlt dein Hund sich in Sicherheit, hier kann er entspannen. Wichtig dabei ist, dass dein Hund hier auf keinen Fall gestört wird. So kann er diesen Ort als „Ruheoase“ für sich entdecken. Gerne angenommen werden meistens an einem ruhigen Ort platzierte, halb geschlossene Hundeboxen.

Wenn es die geliebte alte Box ist, die für den Hund der gewählte Rückzugsort ist, dann sollte dies ihm gelassen werden.
Wenn es die geliebte alte Box ist, die für den Hund der gewählte Rückzugsort ist, dann sollte dies ihm gelassen werden.

Neben der Ruhe an seinem Rückzugsort sind Entspannung und Zuwendung für den Stressabbau und als Verarbeitungsphase immens wichtig für deinen Hund. Zu Beginn eignet sich ein Kauspielzeug als Beschäftigung und zum Stressabbau. Hat sich dein Hund eingewöhnt und Vertrauen aufgebaut, können später auch Aktivitäten wie Futtersuchspiele oder auch das Mantrailing hinzukommen. Hier wird die Konzentration und besonders die Selbstsicherheit gefördert, denn dein Hund hat immer ein erarbeitetes Erfolgserlebnis.

Gewöhne deinen Hund mit viel Geduld und Zeit an neue Umweltreize. Zu Beginn eignet sich ein ruhiger Spaziergang in reizarmer Umgebung. Zeige deinem Hund die Natur und lasse ihn ohne Druck Neues erkunden und erschnüffeln. Setze dich auch einfach mal mit deinem Hund in die Natur und lasse neue Eindrücke und Gerüche auf ihn wirken.

Hast du eine stabile Bindung zu deinem Hund aufgebaut, können Aktivitäten gesteigert werden und immer mal wieder neue Situationen, Umgebungen und Reize hinzukommen. Neue Sozialkontakte und feste „Hundekumpels“ runden die neue, tolle Welt deines Hundes ab (sofern ihm das gefällt).

Bindung zum Hund aufbauen
Bindung zum Hund aufbauen

Keine reine Konditionierung

Wie im vorherigen Absatz erwähnt, ist das Vertrauen einer der wichtigsten Faktoren beim Zusammenleben mit einem Hund. Stumpfe Konditionierung um Befehle zu befolgen ist nicht das, was der Hund mit Deprivationssyndrom in erster Linie braucht. Einige Hundehalter verwechseln jedoch Struktur mit Gehorsam und Konditionierung.

Die vielen Kommandos und das anstrengende Training kann deinen Deprivationshund schnell überfordern. Die Menschen vermuten dann, dass der Hund ungehorsam ist oder voller Absicht nicht mitarbeitet.  Man kommt gefühlt keinen Schritt vorwärts und besonders wohl scheint sich der Vierbeiner im Allgemeinen auch nicht zu fühlen. Keine förderlichen Voraussetzungen für eine tolle Beziehung zwischen Mensch und Hund.

Je enger eure Bindung also ist und je mehr Vertrauen dein Hund gefasst hat, desto eher wird er dir freiwillig folgen und sich öffnen. Lege deinen Fokus auf die Beziehungsarbeit zwischen dir und deinem Hund. Eine vertrauensvolle und intensive Bindung ist das Fundament eines harmonischen Zusammenlebens mit deinem Hund. Verständnis und der Blickwinkel aus einer anderen Perspektive sind hier der Schlüssel für viele Türen, welche sich euch für eine wunderbare Zukunft öffnen.

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